von Michael Rosecker
Werte Angehörige, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
Für einen Freund eine Ansprache halten zu dürfen, ist immer eine Ehre, eine Herzensangelegenheit und normalerweise eine prächtige Freude. Heute, muss ich gestehen, erstmals in meinem Leben, ist es zwar noch immer eine Ehre und eine Herzensangelegenheit, aber der Rest ist heute Bitterkeit. Nicht nur die Tatsache einen lieben Freund verloren zu haben, nicht nur die Einsicht, dass ein nicht wegzudenkender Fixpunkt des Kultur- und Politikgeschehens unserer Heimatstadt verloren ging, lösen diese Bitterkeit aus, sondern auch die Tatsache, dass das Ableben unseres Karls ein Loch reißt, in die Geschichte dieser Stadt.
Kaum einem Bürger der Stadt war es aufgetragen so viel Geschichte auf sich zuladen, so viel Geschichte zu ertragen, so viel Geschichte anzustoßen und selbst soviel Geschichte mit- und aufzuschreiben wie ihm. Karl Flanner war genauso Akteur wie Opfer, genauso aktiver Mitautor wie beobachtender Chronist der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser Stadt. Seine Vitalität, Begeisterungsfähigkeit, Zähigkeit und seine manchmal für Außenstehende kaum nachvollziehbare Verbissenheit zeichneten ihn aus, wurden verehrt von den Freunden und gehasst von den Gegnern.
Aber eines beherrschte er wahrhaftig wie kein anderer, und diese Leerstelle wird nun kaum zu füllen sein: Karl Flanner war ein begnadeter Geschichte-Erzähler. Er war einer, der mitgerissen wurde vom Strom der Geschichte, einer, der selbst den Strom der Geschichte mitriss und einer, der es verstand andere in den Strom der Geschichte mitzureißen. Wie machte er das? In dem er Geschichte formen konnte, zu spannenden menschlichen und menschelnden Geschichten, die er wunderbar begeisternd packend erzählen konnte. Durch seine leuchtende Kraft des Erzählens, durch seine Gabe die Hirne und die Herzen der Menschen gleichermaßen mit seinen Erzählungen zu erreichen, schuf er Erinnerungsplätze und Aufbewahrungsorte von historischen Fakten, menschlichen Erkenntnissen und real gemachten Lebenserfahrungen.
So wurde er selbst Erinnerungsplatz und Aufbewahrungsort Wiener Neustädter Geschichte, mit all ihren menschlichen Lichtblicken und allzumenschlichen Abgründen.
Dieser Erinnerungsplatz, dieser Aufbewahrungsort ist nun jedoch verloschen und das reißt das bereits erwähnte Loch, in den Strom des Erzählens der Geschichte Wiener Neustadts. Für uns Zurückbleibende wird es eine immens große Aufgabe sein, dieses Loch wieder aufzufüllen, die Lücke zu überbrücken. Es wird für uns eine Großaufgabe sein, den Strom der Geschichte in Karl Flanners Erzählungen nicht abreißen zu lassen, ihm neuen Schwung zu geben, ihn umzuleiten und ihn in neue Bahnen zu lenken, um ihn genauso an den Bedürfnissen und Hoffnungen der Menschen orientiert, kraftvoll weitergeben zu können, im Sinne einer humanen, solidarischen, demokratischen und gerechten Zukunft.
Ob wir diese Erzählkraft des Zeitzeugen Karl Flanners, der all das selbst erlebt, erlitten und erstritten hat, haben, das weiß ich nicht, ich kann es nur hoffen. Und in dieser Hoffnung bestärken mich die Erinnerungen daran, dass ich dreimal in meinem Leben gemeinsam mit dem Karl Flanner das Solidaritätslied von Bertholt Brecht und Hanns Eisler singen durfte. Jedes mal, wenn ich mich in den letzten Tagen an diese wunderbaren Augenblicke zurückerinnerte, wurde mir wieder leichter ums Herz, und ich spürte zaghaft aber doch die pulsierende pochende Kraft des Stroms der Geschichte, den unser Freund Karl Flanner angestoßen hat und der mich von Neuem beginnt mitzureißen.
Drum einmal noch gemeinsam Karl, lass uns vom Vergangenen, vom Gegenwärtigen und von der Zukunft erzählen mit den Worten Bertholt Brechts:
„Vorwärts und nicht vergessen,
worin unsere Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen,
vorwärts und nie vergessen:
die Solidarität!“
In diesem Sinne Karl, Adieu!
R.I.F.